Shichi hō de

Untertauchen durch Reizüberflutung

Genauso wie ein Flötenspiel alleine gut zu hören ist, erklingt die Flöte in einem Konzert, so verschwindet sie in der Masse der Töne und ist nur selten zu hören.

Ein weiteres gutes Beispiel ist ein schönes Ölgemälde in einer Galerie. Wenn es alleine an einer Wand hängt, nehmen wir es wahr, hängt es mit vielen anderen zusammen in einem Saal, geht es in der Masse unter.

Im täglichen Leben begegnen wir zahllosen Menschen, von denen die meisten nur kurz oder aber gar nicht wahrgenommen werden. Je größer die Stadt ist, in der man sich aufhält, desto mehr kommt dieser Effekt zum tragen. In ländlichen Gegenden fällt man als Fremder unter Umständen sofort auf, während man sich in Großstädten unbehelligt bewegen kann.

Unser Bewusstsein filtert alles weg, was für unser Überleben nicht notwendig ist. Das bedeutet, dass nur Personen die wir kennen, Menschen mit auffälliger Statur, besonderem Auftreten oder körperlichen Merkmalen in unser Bewusstsein vordringen. Die anderen Personen werden zwar meist wahrgenommen, vielleicht hat man sogar im vorbeigehen Augenkontakt, doch nach wenigen Augenblicken ist das meiste wieder aus unserem Bewusstsein verschwunden.

Im Mittelalter bedeutete dies, das der Ninja die meiste Zeit seines Auftrags in einer natürlichen Verkleidung unterwegs war. Nur einen sehr geringen Anteil seiner Aufträge erledigte er in dem typischen, schwarzen Kampfanzug.

Die sieben Verkleidungen im Mittelalter

Das mittelalterliche System des shichi hō de bestand aus sieben verschiedenen Verkleidungen und Berufsgruppen, die zu dieser Zeit häufig anzutreffen waren. Es stellt aber nur ein Denkmodell dar, keinesfalls beschränkte sich ein Ninja nur auf diese sieben Verkleidungen, er passte die Verkleidung immer der Umgebung und dem Nutzen an. Er konnte auch als Arzt, Reisender, Bauer, Soldat, Fischer oder in einer anderen Rolle auftreten.

  • Akindo (Händler)
  • Hōkashi (Musiker)
  • Komusō (Wanderpriester)
  • Rōnin (herrenloser Samurai)
  • Sarugaku (Unterhaltungskünstler)
  • Shukke (buddhistischer Mönch)
  • Yamabushi (kriegerischer Bergasket)

Das shichi hō de besteht aus zwei wichtigen Komponenten. Zum einen aus dem hensō jutsu (Kunst des Verkleidens), und zum anderen aus dem gisō jutsu (Kunst des Sich-hinein-denkens in andere).

Im hensō jutsu lernte der Ninja, wie man die Verkleidung anlegt und dem eigenen Körper anpasst. Im gisō jutsu lernte man, wie man eine Person nachahmt, was für Merkmale und Eigenschaften man sich verinnerlichen musste.

Eine moderne Anpassung

Natürlich ist es heute nicht mehr möglich als Samurai unauffällig durch sein Einsatzgebiet zu gehen. Doch die Methoden des Ninjutsu sind zeitlos, sie müssen nur hin- und wieder angepasst werden. Stephen K. Hayes hat eine aktuellere Version der shichi hō de entwickelt:

Scholastiker

Zu dieser Kategorie gehören Studenten, Lehrer, Wissenschaftler, technische Spezialisten, Künstler und Idealisten. Man muss sich mit der jeweiligen Universität, Schule oder Einrichtung vertraut machen. Meist muss man auch noch über ein Fachgebiet verfügen, das man auch beherrschen sollte. Als Künstler muss man auch Werke oder Arbeiten vorweisen können und in der Lage sein, das Talent auch zu beweisen. Als Idealist muss man sich auch mit der Idee, die man vertritt identifizieren.

Geschäftsleute

Zu dieser Kategorie zählt man Verkäufer, Händler, Büroangestellte, Sekretäre, Buchhalter und Geschäftsinhaber. Man sollte in der Lage sein Grundkenntnisse seines Fachgebietes vorzuweisen. Das Auftreten sollte einer Geschäftsperson ähnlich sein, Erfahrung und Kenntnisse der Branche sollten anzumerken sein. Nötige Geschäftspapiere wie Visitenkarten, Geschäftsberichte etc. sollten gefälscht werden.

Landleute

In diese Kategorie fallen Bauern, Viehzüchter, Förster, Holzfäller, Wanderarbeiter und alle Menschen, die man normalerweise in Ländlichen Gegenden antrifft. Man muss sich natürlich mit seinem Fachgebiet auskennen, und über Kühe, Ackerbau oder Forstwirtschaft bescheid wissen. Außerdem sollte man mit den nötigen Geräten, wie Traktoren, landwirtschaftlichen Maschinen oder Jagdwaffen umgehen können. Natürlich muss man auch nötige Dokumente, wie Jagd- oder Angelschein vorweisen können. Diese Rolle ist wahrscheinlich am schwersten, weil man in ländlichen Gebieten als Fremder sofort auffällt und genau unter die Lupe genommen wird.

Geistliche

Alle Personen des religiösen Lebens, wie Priester, Rabbiner, Prediger, Missionare, Sektenführer und eventuell auch Sozialhelfer zählen zu dieser Kategorie. Wenn man vorgibt zu einer dieser Gruppen zu gehören, so muss man mit den Regeln, Vorschriften und Tabus der Religion sehr genau vertraut sein. Gewisse Betregeln, Essensvorschriften oder Handlungsweisen sind für die Rolle strikt zu beachten.

Vertreter des öffentlichen Lebens

Unterhaltungskünstler, Schauspieler, Musiker, Spitzensportler, Politiker, Reporter, Modelle und andere Personen aus dem Bereich der Yellowpress kann man zu dieser Kategorie zählen. Man sollte natürlich auf seinem Fachgebiet eine gewisse Fähigkeit haben und das richtige Auftreten haben. Autogrammkarten und Bildmaterial, Parteimappen etc. sollten vorhanden sein.

Arbeiter/Handwerker

Alle Personen, die in ihrem Beruf körperlichen Einsatz bringen, wie Bauarbeiter, Maler, Gärtner, Kraftwagenfahrer, Klempner gehören in diese Kategorie. Die nötigen Werkzeuge und das Fachwissen sollte man natürlich vorweisen können. Man muss auch bedenken, das man evtl. an Körpermerkmalen sehen kann, ob man körperliche Arbeit verrichtet.

Uniformierte

Zu diesem Bereich zählt man Reparaturteams, Mitarbeiter vom Wasserwerk oder Stromgesellschaften, Gefängniswärter, Polizisten, Krankenpfleger, Militär, Sicherheitsbeamte und Wachpersonal. Im Prinzip kommt man mit dieser Tarnung wahrscheinlich am weitesten und darf vielleicht sogar sicherheitsrelevante Bereiche betreten. Es versteht sich von selbst, das man die nötigen Papier und Genehmigungen vorweisen können muss.

Natürlich sind mit diesen Berufsgruppen die Möglichkeiten noch lange nicht erschöpft. Ein zeitgenössischer Ninja fühlt sich von keiner Beschränkung beeinflusst und wird nach belieben seiner Phantasie den freien Lauf lassen.

Anpassung an die Verkleidung

Das Ziel sollte immer sein, nicht die Rolle zu wählen, die man am leichten Darstellen kann, sondern diejenige zu wählen, die den Ninja am nächsten an sein Ziel bringt. Unter Umständen ist der Weg nicht einfach, es kann auch vorkommen, das der Ninja sich erst eine Zeit lang in ein Team von Arbeitern einarbeiten muss, bis er an seinen Zielort oder zu seiner Zielperson gelangt.

Typ

Die Person, die man verkörpern will, muß auch zum eigenen Typ passen. Man kann als kleine, schlanke Person mit weicher Haut keinen Bauarbeiter spielen, ohne sich einem Risiko auszusetzen. Als junge Person wird einem die Rolle eines Firmenchefs oder Würdenperson nicht abgenommen. Andererseits wird einer älteren Person nicht abgenommen, dass sie Student ist.

Haare und Körperform

Am einfachsten ist es die Haartracht und Haarfarbe zu verändern. Die Körperform zu ändern, ist schon weit aus schwieriger, und bedarf einer Menge Zeit oder aufwendiger Kostümierung. Körperhaltung, Gangart und Benehmen können durch ausdauerndes Üben angepasst werden. Verkleidung, Make-up und Kostüme können leicht angepasst werden.

Wissen und Fähigkeiten

Weitaus schwieriger ist es für einen Ninja sich das nötige Fachwissen der Berufsgruppe anzueignen. Natürlich kann man sich durch Bücher, an Hochschulen oder in Kursen auf einen Beruf vorbereiten, doch kann es durchaus vorkommen, das man gezwungen wird sein Fachwissen zu beweisen. Je nach Berufsgruppe kann sich dies als Unterschiedlich schwer erweisen.

Sprache

Die Sprache stellt einen weiteren, schweren Teil der Verwandlung dar. Ein erfahrener Ninja spricht so wenig, wie möglich, um sich nicht zu enttarnen. Natürlich kann ein übermäßiges Zurückhalten in gewissen Berufszweigen sehr verdächtig wirken, doch Schweigen ist meist sicherer, weil man nicht in eventuelle Frage-/Antwortgespräche verwickelt werden kann. Man muss sich unbedingt mit der richtigen Aussprache, Sprachqualität und Akzent vertraut machen. Die nötige Fachsprache, Redewendungen und Umgangssprache muss unbedingt zur Rolle passen. Wenn man in fremden Ländern ist, so kommt noch die Barriere der Fremdsprache hinzu, denn wenn man nicht akzentfrei sprechen kann, fällt man sofort als Fremder auf.

Einsatzgebiet

Es ist ebenfalls wichtig, das man sich mit der Geographie des Einsatzgebietes vertraut macht. Man sollte Fluchtwege kennen und sich an seinem Arbeitsplatz zurechtfinden können.

Psyche

Wenn man die Rolle einer anderen Person annehmen will, so muss man sich auch deren Psychologie verinnerlichen. Eventuell muss man Sachen sagen, die einem zuwider sind, oder sich benehmen, wie man es normalerweise verabscheut. Ohne die nötige gespielte Überzeugung wird man nicht in der Lage sein, die Rolle ausreichend überzeugend zu spielen.

Zu bedenken ist auch, das bei den meisten Berufsgruppen zwischen privat und beruflich zu unterscheiden ist. Polizisten reden nicht ständig über Verbrechen und dessen Bekämpfung.

Man muss sich beim shichi hō de mit dem ganzen Geist auf die Rolle, die man spielen möchte einstellen und zeitweise ein anderer Mensch werden. Dabei darf man sich aber nicht in der neuen Rolle verlieren, so dass eine Rückkehr zum alten Ich nicht mehr möglich ist oder gar abgelehnt wird. Dieses benötigt eine ausgesprochen starke Persönlichkeit.


Text: Stefan Imhoff